düstere momente
jede gruppe von menschen hat eine bestimmte, für sich eigen zuteil gewordene zeitrechnung. in aller heterogenität vereinen uns solche ereignisse. ändern unsere sicht auf die gesellschaft und vice versa.
früher war es für mich und die vielen menschen in meinem umfeld der 11 september. es gab ein leben davor und ein leben danach. und mit danach meine ich einen tag später stigmatisierte dich die komplette gesellschaft. kriminalisierte deine existenz. neue wörter wurden extra für dich konstruiert und in den sprachgebrauch implementiert. schläfer. davor kannte man nur den siebenschläfer. jetzt hörst du es von überall her. im fernseher. im radio. auf zeitungen. schläfer.
ein schläfer war jemand der aussah, als könne er ein flugzeug entführen, deswegen werfen wir da mal ein genaues auge drauf.
vielleicht macht er auch nix. aber lass uns trotzdem mal eine auge drauf haben
das nächste zeitregime begann, als der soundtrack vom rosaroten panter nicht mehr an unbeschwerte momente vor dem fernseher erinnerte. nein. die zeiten waren vorbei. jetzt war es nur noch eine mahnung. eine mahnung daran, wie sorglos bewaffnete nazis unsereins ermorden können und vom staat gedeckt werden. der nsu war nicht zu dritt. bis heute bleibt der bittere beigeschmack von sicherheitsdiensten mit nazifreunden. dazwischen gab es so viele schockereignisse in unserer zeitrechnung.
rostock. solingen. mölln. dessau. keupstrasse.
und die letzte historische veränderung? jede person weiß, wo sie in dem moment war, als die nachricht kam. ich saß mit meinen engsten freunden in einer shishabar namens behesht. behesht bedeutet paradies. wie zynisch, dass es sich wie die hölle später anfühlte. einer von uns postete 10 minuten vorher eine story mit der caption migrantischer lifestyle. migrantischer lifestyle bedeutet für männer, die aussehen wie ich, langsam aus den mittlerweile gentrifizierten vierteln, in denen wir aufgewachsen sind, rausgeekelt zu werden und den einzig verbliebenen safe space auszunutzen. safe space oder nennen wir es lieber zufluchtsort. refugium. schutzraum bis zum abend des 19. februar. der ort, an dem wir uns wohl fühlten, war aufgrund medialer hetze die brutstätte der kriminalität für die mehrheitsgesellschaft. und es wurde solange darüber berichtet und geschrieben und berichtet und geschrieben und wieder berichtet, bis jeder hans sich dachte shishacafes wären der flagshipstore des teufels.
das ist unsere letzte aktualisierte zeitrechnung.
mit diesen gedanken sitze ich in der bahn.
es ist grau. es regnet. die bahn stinkt.
die bahn stinkt immer, aber bei diesem wetter besonders. es ist stickig. wenigstens ist die lofi playlist gut.
die pandemie nervt. und trotz, oder wegen der pandemie, kleben die menschen hier arsch an arsch.
weiter vorne wird gestritten. ich dreh die kopfhörer lauter. noise canceling.
was für ein segen in anbetracht all dieser leute, die mir auf den sack gehen.
es sollte noise cancelling für deutschland geben.
köpfe drehen sich weg. in diesem land drehen sich köpfe immer weg, wenn es um ungerechtigkeiten geht. bloss nichts damit zutun haben.
ich mach die musik aus. „du kommst hier in mein land du wixxer. du drecksKanake*. verpiss dich“, höre ich.
also alles wie immer.
„seit wann bist du so abgestumpft“, fragt meine seele.
„du kannst nicht alle beschützen“, sagt die vernunft.
„wie lange willst du noch zuschauen“, fragt die aus traumata eines ganzen lebens voll solcher vorfälle genährte wut. ehe ich mich versehe, steh ich also vor ihm.
für ihn bin ich nur ein Kanake. er ist für mich aber vertreter so vieler anderer menschen. vertreter so vieler gemeinheiten. vertreter derer, die am 20. februar noch karneval feiern wollten, obwohl so viele unserer herzen brannten.
das knacken beim brechen seines kiefers ist der soundtrack unserer antifaschistischen verteidigung. kämpfen heißt erinnern. erinnern heißt kämpfen. passt auf euch und eure leute auf. seid solidarisch.
und wenn ihr so etwas mitbekommt, dann lasst es knacken.